Paradox liefert den nächsten Rohdiamanten | Victoria 3 Gamereview
-
Stack -
10. Dezember 2022 um 21:30 -
1.331 Mal gelesen -
4 Kommentare 8 Minuten
Victoria 3 Gamereview
- Paradox liefert den nächsten Rohdiamanten -
Um die Katze gleich aus dem Sack zu lassen: Victoria 3 ist ein hervorragendes Strategiespiel. Warum also sprechen wir im Titel dann also von einem Rohdiamanten? Nun, um das zu verstehen, gilt es erst einmal das Konzept "Paradox" zu durchleuchten. Paradox Interactive ist ein schwedischer Spielepublisher. Seit mehr als dreißig Jahren versorgen die Schweden die Welt mit Strategiespielen aus nahezu allen Menschheitsepochen. Mit vier großen Spielereihen deckt Paradox mehr als 1000 Jahre der menschlichen Zivilisation ab:
- In Crusader Kings geht’s ins dunkle Mittelalter im Zeitraum von 866 bis 1453 – Es gibt Kreuzzüge, Ränkespiel, Verrat und Plünderungen.
- Die Spiele der Europa Universalis Reihe beginnen mit der Renaissance, meist mit der Entdeckung Amerikas 1492 und dauern bis etwa 1792 an. Hier kolonisiert man die Welt, christianisiert alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, plündert Afrika und raubt den Inkas ihre Schätze und meist auch ihre Freiheit.
- Die Victoria-Reihe spielt von 1836 bis nunmehr 1936. Die Industrialsisierung und Liberalisierung werden vorangetrieben, Nationen gegründet und die Welt vom Joch der Sklaverei befreit.
- In Hearts of Iron führt man die Nationen der Welt mit dem Zweiten Weltkrieg in den tödlichsten Konflikt, den die Menscheit je gesehen hat. Das Spiel deckt die Zeit zwischen 1936 und 1945 ab.
Es gibt auch vor und nach diesen Zeiten weitere Strategiespiel-Reihen von Paradox, aber das sind die vier wesentlichen. Im Kern hat kein Ableger dieser Reihen bisher so richtig enttäuscht. Nur eine Sache fällt bei jedem Release auf und kann mittlerweile als Paradox-typsich bezeichnet werden: Die Spiele werden mit den Jahren nach ihrem Erscheinen erst richtig, richtig, richtig gut. Paradox fährt nämlich ein, mittlerweile selten gewordenes DLC-Modell, bei dem Spiele selbst noch nach Jahren Erweiterungen erhalten. Diese kommen meist auch mit mal mehr, mal weniger umfangreichen, kostenlosen Patches und erweitern die Spiele massiv und merzen Schwächen eines Spiels nach und nach aus.
Dann also los: Willkommen in Victoria 3 und willkommen im ansehnlichen Hauptmenü. Die hübschen Malereien finden sich an verschiedenen Stellen des Spiels wieder und schaffen einen interessanten Look. (Quelle: Autor)
Genau so scheint es nun auch bei Victoria 3 der Fall zu sein. Das Spiel kam Ende Oktober bei weitem nicht perfekt auf den Markt. Das komplexe Wirtschafts- und Ressourcensystem des Spiels, Kerninhalt der Victoria-Reihe, funktionierte bereits gut und war überaus beeindruckend. Doch gerade im Lategame zeichneten sich noch kleinere Mängel ab, die mit dem letzten Patch 1.1 nun in Teilen behoben wurden. So machten die beiden Lategame-Ressourcen Gummi und Öl Probleme. Die KI nutzte hier ihre Produktionsmöglichkeiten nicht aus, weswegen der Spieler z.B. als Spieler eines europäischen Landes praktisch immer gezwungen war kriegerisch an diese Ressourcen zu kommen. Doch auch dann gab es noch Mangel. Gerade das Öl sprudelte absolut nie im Überfluss.
Dies wurde nun mit Veränderungen am KI-Verhalten und einer weiteren, wenn nun auch nicht ganz historisch korrekten Verteilung der Ressourcen auf der Karte behoben. Außerdem gab es Anpassungen am Politiksystem. Zum Start von Victoria 3 fiel es noch zu leicht eine Regierung mit großer Legitimität einzusetzen und Gesetze ohne großen Widerstand zu verabschieden, die eigentlich gegen die aktuelle Doktrin des jeweiligen Landes gehen. Diese Fehler wurden behoben. Darüberhinaus gibt es am Spiel zwei Hauptkritikpunke: Die Kriegsführung und dass das Game beim wiederholtem Spielen zu eintönig wird.
Als große Nation sind Kolonien eine Prestigefrage. Das frisch gegründete Deutsche Reich ist in diesem Fall besonders erfolgreich gewesen und hat sich durch ein breites Kolonialreich in Zentralafrika viele Ressourcen sichern können. In Deutsch-Kenia wird nun Baumwolle gepflückt und Gummi abgezapft. (Quelle: Autor)
Kommen wir erst einmal zur Kriegsführung. Bei dieser gehen unter den langjährigen Paradox-Fans die Meinungen auseinander. Wir gehören zur Fraktion derer, die die Anpassung der Kriegsführung für gelungen hielten. Diese wurde auf das einfache Zuweisen von Armeen und Generälen an Frontlinien beschränkt. Die Armee muss mit Waffen und Munition versorgt werden. Einige Spieler kritisierten, dass es an einer Frontlinie schlecht ersichtlich sei, warum man eine Schlacht denn nun genau gewinnt oder verliert. Dem müssen wir allerdings entgegen halten, dass diese Informationen durchaus vorhanden sind. Sie sind leider gegenwärtig nur sehr versteckt.
Das ist in jedem Fall zu kritisieren. Durchblickt man die Kriegsführung aber erst einmal, dann begeistert diese auch. Victoria 3 legt den Schwerpunkt eben auf die Industrialisierung. Dass der Krieg eher sekundär simuliert und vereinfach dargestellt wird, ist da fast schon verständlich. Im Multiplayer bereitet das Ganze übrigens, trotz einfacherer Kriegsführung durchaus, Freude. Ein gemeinsames Rennen um Ressourcen hat man sonst in kaum einem anderen Paradox-Titel. Gleichzeitig entstehen mit der Zeit gewisse wirtschaftliche Abhängigkeiten. Krieg ist teuer. Die Wirtschaft und der Lebensstandard der eigenen Bevölkerung leiden unter Krieg. Deswegen lässt sich dieser nicht Non-Stop führen. Friedenszeiten lassen sich dann nutzen um seine Armee aufzurüsten und die eigene Wirtschaft wieder zu reorganisieren.
Old Habits: Ein Feldzug gegen Frankreich steht an. Der Hintergrund: Die Franzosen sind durch einen Bürgerkrieg mit Regierungswechsel geschwächt und wir wittern die Chance uns das Elsass zu holen. Für die Franzosen sieht es mit ihren amerikanischen Verbündeten schon vor Kriegsbeginn schlecht aus. (Quelle: Autor)
Nun zur Kritik, dass sich jeder Spielstand relativ gleich spielen soll: Das ist tatsächlich teilweise der Fall. Zumindest, wenn man häufig nur europäische Nationen spielt. Hier sind die Herausforderungen häufig die Gleichen. Ob man nun mit Preußen startet und Deutschland vereint, oder mit Piemont Italien gründet macht erstmal keinen riesigen Unterschied. Letzteres mag vielleicht nur etwas etwas herausfordernder zu sein. Die Wirtschaft hochzuballern beginnt an sich auch immer gleich. Zu Beginn gibt es meist einen Mangel an Werkzeugen. Den gilt es auszugleichen und dann nach und nach den Output zu erhöhen, neue Produktionsmethoden zu erforschen und neue Fabriken zu errichten.
Die Wahl der Nation entscheidet auch darüber mit welchen Herausforderungen ein Spieler bis zum Jahr 1936 zu kämpfen hat. (Quelle: Autor)
Ganz anders spielt sich das als ein Land im Orient oder in Asien. Hier ist die Technologie noch etwas rückständiger. Und die Herausforderungen sind dementsprechend auch andere. Das Militär ist oft nur ein Verband von Bauern und bis man eine Eisenbahn errichtet vergehen mehrere Jahrzehnte. Das fordert mehr und stellt einen im Lategame vor übermächtig wirkende europäische Konkurrenten. Hier wird das Spiel nochmal fordernder und wiederholt sich so auch eigentlich nie. Ohnehin gilt: Wer das Wirtschaftssystem von Victoria 3 mag, für den wird es so oder so nicht langweilig werden.
Die Verwaltung des Handels fällt an manchen Stellen dann doch etwas schwer. Während der Überblick über den Markt noch leicht fällt und klar zu sehen ist, an welchen Ressourcen es mangelt, fällt die Einsicht der verschiedenen Handelsrouten schwer. (Quelle: Autor)
Victoria 3 dürfte vielen absolut keinen Spaß machen. Und das ist für Paradox-Spiele erst einmal eine völlig normale Sache. Nicht jeder ist Fan von Spielen, die sich, gerade noch vor einigen Jahren, fast wie endlose Exceltabellen anfühlen können und schlicht und ergreifend viele überfordern. Für Strategiespieler, die diese Komplexität lieben und schätzen ist Victoria 3 an sich hervorragend. Mancher Spielertyp dürfte aber seine Probleme mit dem Kriegssystem haben. Dieses ist, wie gesagt, Geschmackssache. Diplomatie und Wirtschaft funktionieren, gerade seit dem letzten Patch gut.
Für einen Strategietitel ist Victoria hübsch, wenn auch nicht überwältigend. Ein paar mehr Ereignismeldungen, die in die Zeit passen, wären darüberhinaus wünschenswert gewesen. Auch hätte es gut getan bestimmte, relevante Informationen nicht hinter zu vielen Menüpunkten zu verstecken. Hier und da hackt es dadurch bei der Verwaltung seiner Ländereien oder Handelsrouten. Gerade das Handelssystem ist etwas unübersichtlich. Die Entwickler haben auf generelle Kritik am Interface aber an einigen Stellen bereits reagiert und nachgebessert.
Victoria 3 ist für ein Strategiespiel, das sich auf einer Weltkarte abspielt grafisch durchaus hübsch. Die Städte, im Bild ist Greifswald zu sehen, verändern sich mit zunehmender Industrialisierung. Außerdem wandeln sich die unbefestigten Straßen beim Ausbau der Infrastruktur ist Eisenbahnlinien. (Quelle: Autor)
Und so ist es, wie bereits angesprochen, irgendwie immer bei Paradox: Es gibt ein gutes Produkt, mit ein paar Problemen, die dann nach und nach behoben werden. Gleichzeitig wächst das Spiel und die ohnehin schon hohe Qualität zusehends. Wir freuen uns auf die nächsten Jahre mit Victoria 3! Dieser Rohdiamant dürfte bald schon zu einem hochkarätigem Brillianten geschliffen worden sein.
Wertung für Victoria 3
Umfang: 9/10
Gameplay: 8/10
Spieldesign: 8/10
Atmosphäre: 7/10
Einsteigerfreundlichkeit: 6/10
Singleplayer: 8/10
Multiplayer: 9/10
Preis-/Leistung: 9/10
Innovation: 9/10
Communityverbundenheit: 8/10
Gesamt: 81/100
Über den Verfasser:
Flo aka Stack (19) ist Student,
Spiele-Enthusiast, sowie Lokaljournalist.
Seit dem 16. Februar 2019 ist er
Mitglied der EGM-Community.
Kommentare 4